Sehen und gesehen werden
Contact Jam und Videotanz im 103 Studio
Auf einer kleinen Bühne stehen vier in weiß gekleidete Streicher
und spielen "Jesu, meine Freude". Auf Sofas, Barhockern und
auf dem Fußboden sitzt ein gebanntes Publikum und hört dem
Quartett verzückt zu. Das alles wirkt so gar nicht wie ein normaler
Clubabend, und auch die Zuhörer wirken nicht wie das gewohnte Kreuzberger
Partyvolk. Denn während das Solistenensemble Kaleidoskop auf der
Bühne des 103 Club-Studios spielt, tut sich dahinter ebenfalls
Ungewohntes.
Verlässt man den Hauptraum und wirft einen Blick hinter die Bühne,
betritt man eine kleine Parallelwelt und stolpert mitten in eine Contact
Jam. Und man endtdeckt bekannte Gesichter: einige Sasha Waltz-Tänzer,
das eine oder andere Dorky Park-Mitglied und zwischendrin Amateurtänzer,
die sich ebenfalls seit lanbem in der Szene bewegen. Was die hier alle
machen? Nun, zunächst die Gunst der Stunde nutzen.
Die Veranstalte vom 103Studio, selbst
passionierte Tänzer, haben sich mit der Contactreihe CU&CME2
- Dance on Screens einen kleinen Traum erfüllt: Einen nicht
kommerziellen Abend für die zeitgenössischen Tänzer und
Choreographen der Stadt geschaffen, denen sie von nun an einmal im Monat
eine Plattform auf ungewohntem Terrain bieten will. Denn nicht allein
ums Jammen geht es hier, sondern, soviel DJ, bzw. VJ muss sein, auch
um das mediale Spiel mit demselben. Was also hinter der mit Milchglasscheiben
versetzten Bühnenwand geschiht, wird dort gefilmt, mit urbanene
Stadtansichten gesampelt und auf die Wände der Videolounge projiziert.
So soll eine Vernetzung auf unterschiedlichesten Ebenen stattfinden.
Nicht nur zwischen den Tänzern, die hier auf Künstler anderer
Sparten treffen (ob nun auf ein klassisches Ensemble oder auf die hauseigenen
Djs), sondern über die Videoprojektion eben auch zum Publikum.
Sehr verdienstvoll ist dieser eintrittsfreie Abend, der versucht, den
Tanz in einen artfremden Kontext zu versetzen. Dass diese charmante
Improvisation nicht gleich auf allen Ebenen den erwarteten Effekt erzielt,
ist dabei kaum verwunderlich. So ist einigen im Publikum gar nicht ganz
klar, dass die Projektionen, die sie auf den Wänden des Clubraumes
sehen, liveeingespielt werden. Auch nicht, dass sie Aufnahmen nur wenige
Meter entfernt entsehen. "Ich bin eigentlich nur gekommen, um das
Kleidoskop Ensembele zu hören.", erzählt die nette Marketingdame
von Schering, freut sich aber über die zusätzliche Lektion
in Sachen Videotanz. Denn die Verknüpfung zwischen Tanz und Video
ist in Deutschland längst nicht so etabliert wie beispilsweise
in Großbritannien, den Beneluxländern oder den USA.
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Das Videodance Department ist seit Jahren fester Bestandteil
von Londons The Place, in Ländern wie Brasilien, Italien und Japan
finden regelmäßig Videotanzfestivals statt, und selbst di
SK-Kulturstiftung, die immerhin schon vor 15 Jahren eine Förderung
für Videotanz eingerichtet hat, orientiert sich eher ins Ausland.
Natürlich wird auch in Berlin seit geraumer Zeit mit neuen Medien
experimentiert, doch seinen festen Platz scheint der Videotanz bei uns
noch nicht gefunden zu haben. Ein weiterer Grund für die Macher damit zu experimentieren. Auch wenn nicht jeder im Publikum die
Bemühungen sofort einzuordnen weiß.
Die Tänzer stört es ohnenhin wenig, dass sie dem einen oder
anderen wie Statisten einer hübsch produzierten iPod Werbung vorkommen.
Denn die Clubatmosphäre spiegelt sich auch in den hinteren Räumen
verzerrt weider. "Wir haben keine Ahnung, was da draußen
vor sich geht, aber schon allein die Clubatmosphäre inspiriert",
erzählt ein Tänzer. "Man fühlt sich hier nicht so
isoliert wie bei anderen Contact Jams. Man hört die Musik von außen,
und merkt, dass sich etwas tut. Etwas wozu man zunächst einmal
nur virtuellen Kontakt aufbaut."
Auch dass die sonst eher private Atmosphäre einer Contact Jam durch
das Filmen aufgebrochen wird, ist vielen Tänzern recht. Schließlich
gibt es zwei Räume, und nur in einem davon steht eine Kamera, die
Tänzer stehen also nicht unter dauerhafter Beobachtung. "Die
Möglichkeit, in dieser Form in den öffentlichen Raum einzudringen,
ist spannend.", konstatieren sie am Ende recht einstimmig.
Das Spiel mit der Grenze zwischen public und private scheint es zu sein,
das viele reizt. Denn während sich die Tänzer vor der Jam
noch über die Hintertreppe hereingeschichen hatten, sitzen sie
ein paar Stunden später mit den restlichen Clubgästen zusammen
und lauschen andächtig Bachs letzten Klängen.
Elisabeth Wellershaus
Aus Tanzraumberlin Mai/Juni 2007
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Pas de
deux auf dem Dancefloor
Ballett und Moderner Tanz erobern die Clubs - Choreographen und Videokünstler
begeistern Partyvolk
Profitänzer improvisieren im 103 Club. Dies wird
gefilmt, von VJs bearbeitet und in die Lounge projiziert
In Clubs wird getanzt! Doch während normalerweise
Amateurtänzer im Takt des Beats zappeln, erobern in einigen Nachtclubs
Balletttänzer den Dancefloor. Im Berghain und dem 103 Club trifft
nun das Staatsballett auf Flaschenbier und Pas de deux auf DJs.
"Shut Up And Dance!" heißt das neue Tanzstück
des Berliner Staatsballetts. Doch statt auf der altehrwürdigen
Bühne der Staatsoper zu tanzen, suchten sich die jungen Choreographen
und Tänzer eine ungewöhnliche Location. Vorbei an verriegelten
Lagerhallen und über holprige Straßen erreichen die Premierengäste
den Aufführungsort, den legendären Technoclub Berghain.
In dem stillgelegten Heizkraftwerk nahe dem Ostbahnhof
feiern jedes Wochenende Tausende junge Partygänger. Ihre verschwitzten
Leiber zucken zur elektronischen Musik. Klassik, Oper oder Ballett sind
ihnen so fremd wie dem Papst die Love Parade. Bei "Shut Up And
Dance!" trifft nun Underground auf Hochkultur, ein Clash der Kulturen.
Die vermeintlichen Gegensätze fließen jedoch
ineinander, denn das Berghain brachte sich auch künstlerisch ein.
Die Haus-und-Hof-DJs Âme, Sleeparchive, Luciano, nsi und 7th Plain
alias Luke Slater komponierten die Musik für die Tanzaufführung.
"Die Herausforderung liegt darin, einmal etwas anderes als reine
Clubmusik zu machen", sagt Kristian Beyer von Âme. Zumal
für viele das Tanztheater eine fremde Welt ist. "Ich war noch
nie in der Oper oder dem Ballett", gesteht Luke Slater. Umso spannender
sind die Kompositionen, die auch als Album erhältlich sind.
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"Ich war sofort in das Stück von
Luke Slater verliebt", sagt Choreographin Nadja Saidakova. "Es
sind mehrere Themen, die sich abwechseln mit vielen Rhythmen und Inhalten."
Ihre Inszenierung bei "Shut Up And Dance" ist weniger "Schwanensee"
mit Tutu und Spitzenschuhen, sondern ein sehr dynamischer, moderner
Tanz. Schließlich will man die Clubber nicht mit Altbackenem verprellen.
Der Austausch zwischen Underground und Hochkultur ist
in vollem Gange. Nach Klassik, angewandeter Kunst und Theater findet
nun also auch das Ballett seinen Weg in die Nachtclubs, denn nicht nur
im Berghain werden unter der Discokugeln Pirouetten gedreht, auch der
103 Club hat sein Herz für Tänzer entdeckt. Jeden zweiten
Donnerstag steigt "Contact Jam".
Bei dem außergewöhnlichen Event trifft VJ-Kunst
auf Modernen Tanz. Hinter der Lounge im ersten Stock befinden sich zwei
versteckte Räume. Der Treffpunkt der "Contact Jam"-Szene.
"Contact Jam" bedeutet, dass nicht nach einer Choreographie
getanzt, sondern spontan improvisiert wird. Jede dieser Bewegungen zeichnen
Kameras auf, Videokünstler kombinieren sie live mit Grafiken, Comics
oder Schriftzeichen. Die bewegten Bilder projizieren sie dann an die
Wände der Lounge. "Die Leute tanzen, und wir kommunizieren
das an die Bargäste", erklärt ein Videokünstler.
"Man fühlt sich, als ob man mittanzen würde",
bestätigt Gina aus Italien und deutet auf die wirbelnden Figuren
an der Wand. Neugierige Gäste können auch die hinteren Räume
aufsuchen und den Tänzern direkt zusehen. "Ballett zum Bier
- das ist mal was anderes" sagt Francine aus Paris.
Seit knapp einem halben Jahr veranstaltet 103Studio das
Event. "Wir wollten eine Schnittstelle zwischen Tanz und Videokunst
schaffen", wir verkündet. Und der Zulauf ist groß. Denn auch für
die Tänzer ist es ein außergewöhnliches Erlebnis. Zitat 103Studio: "Wenn
wir den Tänzern demonstriere, wie sie selber die Projektionen beeinflussen
können, brechen sie in Begeisterung aus!"
Tina Molin
Aus der Berliner Morgenpost vom 28. Juni 2007 |